Im Schatten der Welt
Lorenz Just blickt von den Dächern Berlins auf die Wende
von Christoph Schröder
Nach seiner bemerkenswert guten Geschichtensammlung „Der böse Mensch“ hat der 1983 in Halle geborene Lorenz Just, der 1988 mit seinen Eltern nach Ost-Berlin gezogen ist, nun mit „Am Rand der Dächer“ seinen ersten Roman vorgelegt. Das Buch weist erstaunliche zeitliche und geografische Überschneidungen mit Lutz Seilers Roman „Stern 111“ auf, der im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde: Linienstraße, Oranienburger, Kleine Hamburger Straße — das sind die Koordinaten, zwischen denen sich Justs Protagonisten Andrej und Simon, die zu Beginn um die acht Jahre alt sind, bewegen. Allerdings betrachten die beiden Freunde die Stadt im Wesentlichen von oben, von den Dächern und Baugerüsten herab, registrieren die Veränderungen, genießen das Freiheitsgefühl einer kurzen Epoche ohne feste Strukturen.
Justs Erzähluniversum gestaltet eine Parallelwelt zu Seilers ambitionierter Künstlerwerdungsgeschichte. Beide Romane eint, dass sie ausgesprochen unterhaltsam und lesenswert sind. Das hat in „Am Rand der Dächer“ vor allem damit zu tun, dass es keine Erwachsenenperspektive gibt und Just in seiner Erzählweise kindlichen und später jugendlichen Denkstrukturen folgt: Nicht alles wirkt logisch und wohl überlegt, aber abenteuerlich ist das Leben allemal.
Finanzielle Erwachsenensorgen im neu wiedervereinigten Land existieren nicht im Bewusstseinsraum von Justs Protagonisten. Der Ausgangszustand ist die Anarchie, die nach und nach in die westliche Ordnung überführt wird. Berlin Mitte wird von Just als wildes Land inszeniert, mit brüchigen Plattenbauten auf der Linienstraße und besetzten Häusern voller kurioser Individualisten. „In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt“, wie es einmal heißt, erkunden Simon und Andrej, mal in Begleitung von Freunden, aber meistens zu zweit, die Transformationsprozesse der Wendezeit – und werden dabei zu Einbrechern.
Nichts reizt sie mehr als die neu geschaffenen, seelenlosen Wohnungen in jenen Häusern, die hinter Baugerüsten und Planen verschwunden waren und danach wie von Zauberhand als Symbole der gewendeten Epoche zum Vorschein kommen. Architektonisch gewitzte Innenhofkonstruktionen oder mit Panzerglas gesicherte Luxusappartements, beide von oben, von den Dächern herab ausgespäht, üben auf Andrej und Simon einen unwiderstehlichen Reiz aus. Ihr Motor ist eine Neugier auf die neuen Verhältnisse.
Bildungsversuche der klassischen Art prallen an Justs Protagonisten ab: Die Institution Schule ruft bei ihnen bloßes Unverständnis hervor; Lehrer erscheinen als Gespenster der alten Zeit, jämmerlich verschanzt hinter ihren Schreibtischen. Andrejs von Wildwuchs und Selbstermächtigung grundierten Lehrjahren hat Just zum einen in Person seiner Mitschülerin Annika ein weibliches Sehnsuchtsziel vor Augen gesetzt. Vor allem aber arbeitet sich die jugendliche Projektionsmaschine an den Freiheitsversprechen des ehemaligen Klassenfeindes ab: Amerika wird, zum Entsetzen der Eltern, zu einem popkulturellen Leitbild, das mit der Realität kaum in Einklang zu bringen sein dürfte.
„Am Rand der Dächer“ ist ein Roman, der ohne Verklärung die Gestimmtheit einer Dekade im Zwischenraum zweier Staaten auf ungewöhnliche Weise und sprachlich originell einfängt.
Lorenz Just: Am Rand der Dächer. Roman. DuMont Verlag, Köln 2020. 272 Seiten, 22 Euro.
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