Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

können Sie sich noch an unsere Streifbandzeitung Lesezeit erinnern?

Nein? Vor fünf Jahren erschien die letzte gedruckte Ausgabe und mutet heute an wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten.

Jetzt starten wir wieder in digitaler Form und regelmäßig mit unserem Newsletter Lesezeit.

Inhaltlich hat sich an unserem Anliegen nichts verändert: Wir wollen Sie auf interessante Texte aus der literarischen Welt aufmerksam machen und Lesezeit schenken.
In der ersten Nummer können Sie mit Lorenz Just in die Vergangenheit reisen und von den Dächern Berlins auf die Wende blicken. Megan Hunter schaut auf die bröckelnde Idylle einer vierköpfigen Familie in einer wohlhabenden Kleinstadt in England, und schließlich wirft Raphaela Edelbauer einen Blick in die nur scheinbar so ferne Zukunft der Künstlichen Intelligenz.

Wir wünschen Ihnen gute Lektüre.
Ihre Buchhandlung Schwarz

Im Schatten der Welt


Lorenz Just blickt von den Dächern Berlins auf die Wende

von Christoph Schröder

Nach seiner bemerkenswert guten Geschichtensammlung „Der böse Mensch“ hat der 1983 in Halle geborene Lorenz Just, der 1988 mit seinen Eltern nach Ost-Berlin gezogen ist, nun mit „Am Rand der Dächer“ seinen ersten Roman vorgelegt. Das Buch weist erstaunliche zeitliche und geografische Überschneidungen mit Lutz Seilers Roman „Stern 111“ auf, der im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde: Linienstraße, Oranienburger, Kleine Hamburger Straße — das sind die Koordinaten, zwischen denen sich Justs Protagonisten Andrej und Simon, die zu Beginn um die acht Jahre alt sind, bewegen. Allerdings betrachten die beiden Freunde die Stadt im Wesentlichen von oben, von den Dächern und Baugerüsten herab, registrieren die Veränderungen, genießen das Freiheitsgefühl einer kurzen Epoche ohne feste Strukturen.

Justs Erzähluniversum gestaltet eine Parallelwelt zu Seilers ambitionierter Künstlerwerdungsgeschichte. Beide Romane eint, dass sie ausgesprochen unterhaltsam und lesenswert sind. Das hat in „Am Rand der Dächer“ vor allem damit zu tun, dass es keine Erwachsenenperspektive gibt und Just in seiner Erzählweise kindlichen und später jugendlichen Denkstrukturen folgt: Nicht alles wirkt logisch und wohl überlegt, aber abenteuerlich ist das Leben allemal.

Finanzielle Erwachsenensorgen im neu wiedervereinigten Land existieren nicht im Bewusstseinsraum von Justs Protagonisten. Der Ausgangszustand ist die Anarchie, die nach und nach in die westliche Ordnung überführt wird. Berlin Mitte wird von Just als wildes Land inszeniert, mit brüchigen Plattenbauten auf der Linienstraße und besetzten Häusern voller kurioser Individualisten. „In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt“, wie es einmal heißt, erkunden Simon und Andrej, mal in Begleitung von Freunden, aber meistens zu zweit, die Transformationsprozesse der Wendezeit – und werden dabei zu Einbrechern.

Nichts reizt sie mehr als die neu geschaffenen, seelenlosen Wohnungen in jenen Häusern, die hinter Baugerüsten und Planen verschwunden waren und danach wie von Zauberhand als Symbole der gewendeten Epoche zum Vorschein kommen. Architektonisch gewitzte Innenhofkonstruktionen oder mit Panzerglas gesicherte Luxusappartements, beide von oben, von den Dächern herab ausgespäht, üben auf Andrej und Simon einen unwiderstehlichen Reiz aus. Ihr Motor ist eine Neugier auf die neuen Verhältnisse.

Bildungsversuche der klassischen Art prallen an Justs Protagonisten ab: Die Institution Schule ruft bei ihnen bloßes Unverständnis hervor; Lehrer erscheinen als Gespenster der alten Zeit, jämmerlich verschanzt hinter ihren Schreibtischen. Andrejs von Wildwuchs und Selbstermächtigung grundierten Lehrjahren hat Just zum einen in Person seiner Mitschülerin Annika ein weibliches Sehnsuchtsziel vor Augen gesetzt. Vor allem aber arbeitet sich die jugendliche Projektionsmaschine an den Freiheitsversprechen des ehemaligen Klassenfeindes ab: Amerika wird, zum Entsetzen der Eltern, zu einem popkulturellen Leitbild, das mit der Realität kaum in Einklang zu bringen sein dürfte.

„Am Rand der Dächer“ ist ein Roman, der ohne Verklärung die Gestimmtheit einer Dekade im Zwischenraum zweier Staaten auf ungewöhnliche Weise und sprachlich originell einfängt.

Lorenz Just: Am Rand der Dächer. Roman. DuMont Verlag, Köln 2020. 272 Seiten, 22 Euro.

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Im Windschatten des Mythos


Megan Hunter analysiert in ihrem Roman „Die Harpyie“ das Elend von Akademikerehen

von Annette Hoffmann

Wenn die Harpyie erregt ist und einem Greifvogel passiert das schon mal, dann richtet sie ihr Kopfgefieder auf und ihre Augen schauen aus einem Gesicht, das einem Menschen gehören könnte, der eine Vogelmaske trägt. Der Adler jagt Faultiere und Affen und das mit großer Effizienz. Wie selbstverständlich benannte Linné den riesigen Regenwaldbewohner nach dem mythischen Mischwesen der Harpyie. Noch während der Antike wurde diese Vogelfrau zum Sinnbild des Bösen, ursprünglich eine Verkörperung des Windes, sollte sie später die toten Seelen in die Unterwelt bringen und allerlei Unheil stiften. Eine Altphilologin wie Lucy Stevenson weiß dies. Und überhaupt begleitet Lucy dieses Wesen, erfährt man nach und nach in Megan Hunters zweitem Roman „Die Harpyie“, seit ihrer Kindheit.

Der Alltag der Ich-Erzählerin Lucy und ihrer vierköpfigen Familie mit den wiederkehrenden Einladungen und Kindergeburtstagen in der englischen Universitätsstadt mag trivial sein, doch wiederholt sich hier die zyklische Struktur des Mythos. Und das Elend der elterlichen Ehe, in der die Mutter mit dem Haushalt alleingelassen und zudem betrogen wird. „Mein Vater half, genau wie Jake, und er fickte andere Frauen, genau wie mein Ehemann.“ Der Treuebruch lässt Lucy ganz wörtlich die Krallen ausfahren, ihre Fingernägel bohren sich schmerzhaft in den Handballen ihres Mannes. Dies besiegelt zwischen dem Paar eine Rache in drei Teilen, die wie ein jagender Greifvogel über Jack herfallen wird.

In Megan Hunters Roman läuft der Harpyien-Erzählstrang anfangs nebenbei, die Passagen stehen jeweils kursiv gesetzt zwischen längeren Textabschnitten. Zur Affäre kommt eine weitere Kränkung hinzu, die kaum weniger schwer wiegt. Kühl analysiert Lucy die Rolle der Frau und Mutter in den Akademikerfamilien des Mittelstandes. Lucy ist nicht die einzige, die „von zuhause“ aus arbeitet. Von ihren früheren Ambitionen ist wenig geblieben, der Lebenskreis überschaubar. „Die Frau – die Gattin – konnte all das sein, sie konnte weiterhin aktiv mitmischen, sich im Schulelternbeirat engagieren“, kommentiert sie einmal sarkastisch den Rollback ihrer Generation. Doch neben dieser psychologischen und gesellschaftspolitischen Sicht flankiert der Mythos das Eheelend – und durchdringt dieses mit Fortschreiten des Romans. Lucy gerät in einen Furor der Rache, den man in diesem Zusammenhang nur archaisch nennen kann – und der sich zumindest scheinbar jeglicher Psychologie entzieht. Doch braucht es den Mythos als Referenz, wenn eine Frau gewalttätig wird, ist das so unerhört, dass man ohne diese Legitimation nicht auskommen kann? Hunter debattiert diese Fragen nicht, sie verschafft Lucy eine andere Natur und sich selbst eine weitere Erzählperspektive. Es ist die des Vogels, ein Augenblick, der den Raum öffnet: „Hier, denke ich, wird mich die Schwerkraft endlich loslassen. Ich werde ganz nach oben fallen und voran: Ich werde in die Sterne stürzen.“ Der Ehebruch ist kein ganz neues literarisches Sujet, Megan Hunter hat ihm eine andere, banale und zugleich pathetische Wendung gegeben.

Megan Hunter: Die Harpyie. Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen. C. H. Beck Verlag. München, 2021. 229 Seiten, 22 Euro.

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Kollektiver Locked-in-Wahn


Raphaela Edelbauer bringt KI-Science-Fiction auf den gebührenden literarischen Stand

von Jürgen Reuß

Extrapolieren wir unser scheinbar alternativloses Weiter-so-Programm, das eine grundsätzliche Umorientierung im Verhältnis Mensch-Umwelt im globalen Maßstab als nicht umsetzbar ausschließt und alles auf die Karte eines technologischen Wunders setzt, mal etliche Jahrzehnte in die Zukunft. Das Wunder steht kurz bevor. Der Mensch ist im Begriff, den Staffelstab der Evolution an das nächst höhere Wesen weiterzureichen, an DAVE, die erste autonome künstliche Intelligenz. Dessen Evolutionszyklen werden so schnell aufeinanderfolgen, dass der Mensch mit dem Einschalten von DAVE schon um Jahrtausende zurückgefallen ist. Die einzige Chance, mit auf diesen Zug zu springen, besteht für den Menschen darin, das gescheiterte Experiment seiner biologischen Existenz zurückzulassen und sein Bewusstsein ins digitale Nirwana hochzuladen. Und mit ein bisschen Glück räumt dieses höhere Wesen sogar nebenbei noch den von uns verhunzten Restplaneten auf.

Nötig wärs, denn Raphaela Edelbauer gibt in ihrem neuen Roman den Heilsvisionen von Transhumanisten ordentlich Druck auf den Kessel. Im Schnelldurchlauf lässt sie die Erdbevölkerung von 30 auf 120 Milliarden Menschen steigen, die schließlich als eine Art insektoide Humusschicht auf einem von Imbalancen zerrütteten Planeten vor sich hinvegetiert. Zumindest wenn man den Kindersendungen im Inneren eines kafkaesken Riesenwürfels glaubt, in dem die verschiedenen Programmiererkasten an der Verwirklichung von DAVE arbeiten. Wer weiß schon, wo die Grenzen zwischen News, Fake News und Propaganda verlaufen, wenn die Realität eine Funktion des jeweiligen Vernetzungsgrades ist.

Der Ich-Erzähler ist eins der Rädchen in so einem Vernetzungsgetriebe, und so wie sich dort Wände in ständigen Umbauten verschieben, verschiebt sich auch sein Realitätshorizont. Ähnlich raffiniert wie die Innenarchitektur des Würfels ist der Bau des ganzen Romans. Nicht nur SF-Leser werden Freude haben an Edelbauers Vexierspiel mit Versatzstücken aus 1984, Metropolis, Welt am Draht, Philip K. Dicks seltsam verfugten Wirklichkeitsebenen oder neothomistischen Grübeleien von Singularitätsjüngern wie Nick Bostrom. Besonders raffiniert von Edelbauer, das Spiel nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit bis in Ciceros Gedächtnispaläste zurückzutreiben. Erst indem sie das Fenster zur Möglichkeit öffnet, ob nicht die Menschheit kollektiv in einem Locked-in-Wahn rotiert, entfaltet sich die volle Wucht des Romans.

Was ist das eigentlich für eine seltsame Sehnsucht nach einer besseren Welt, in der Menschen für ihre Kinder und Kindeskinder erträumen, dass sie als reine Ziffernfolge für alle Ewigkeit frei in einem Algorithmenparadies flottieren? Ist der Schrecken, dereinst zu Humus zu werden, aus dem vielleicht ein Apfelbäumchen wächst, an dem die Urenkel schaukeln, so schlimm?

Früher hätte man auf so einen Roman Science-Fiction drauf gestempelt und an Nerds versendet. Ob die Buchbranche heute weiter oder nur cleverer ist, spielt letztliche keine Rolle. Hauptsache der Roman findet das große Publikum, das er verdient, auch wenn nicht SF-affine Literaturkritik vermutlich eher ein bisschen nörgeln wird.

Raphaela Edelbauer: Dave. Klett Cotta, Stuttgart 2021. 432 Seiten, 25 Euro.

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