Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

der Januar hat sich zum Glück immer mal wieder von der sonnigen Seite gezeigt. Sollten Sie an nebligen Tagen literarische Ablenkung suchen, möchten wir Ihnen folgende Bücher empfehlen:

William Melvin Kelleys Roman „Ein Tropfen Geduld“, der die Lebensgeschichte des blinden Jazzmusikers Ludlow Washington erzählt.

Anja Kampmanns Gedichtband „Der Hund ist immer hungrig“, in der sie in vibrierendem Ton Realität in Sprache verwandelt.

María José Ferradas schmalen Roman „Kramp“, der wiederum in stimmig nüchterner Sprache von Verschwinden aus dem Chile des Augusto Pinochet erzählt.

Wir wünschen Ihnen gute Lektüre.
Ihre Buchhandlung Schwarz

PS: Die Bücher können wir auch für sonnige Tage empfehlen.

Mit dem Rücken zum weißen Publikum

von Jürgen Reuß

Ludlow Washington ist fünf Jahre alt und blind. Seit einigen Tagen ist es lauter im Haus, Vater trägt Schweres hinaus und kehrt mit leichtem Schritt zurück. Dann ist alles still, still wie nie. Keine krähende Schwester, kein Steine schleudernder Bruder, keine weinende Mutter. Hatte sie ihn zum Abschied geküsst? Nur mit Latzhose bekleidet tastet Ludlow sich vor auf die Veranda. Vater kommt, nimmt ihn an die Hand, führt ihn fort. Ein weiter Weg, ein unbekanntes Haus, kalter Fußboden. „Ich muss dich hierlassen“, sagt der Vater, „viel Glück.“

Es ist ein Heim, in dem blinden Kindern das Spiel eines Instruments beigebracht wird, damit sie ihr Geld selbst verdienen können. Ludlows erste Lektion: Jeder hat einen Herrn. Auch der Sechsjährige, der Ludlow „Ich bin dein Sklave“ sagen lässt, hat einen. Und der Willkür der Heimleitung sind sowieso alle bedingungslos ausgeliefert.

Der Autor William Melvin Kelley erzählt kühl, präzise auf den Punkt und in harten Schnitten. Der Roman mag „Ein Tropfen Geduld“ heißen, beim Lesen braucht man nicht mal ein Tröpfchen davon. Keine fünf Seiten und man spürt, was Ausgeliefertsein bedeutet. Doch bevor man sich darin verliert, kommt der nächste Schnitt. Jeweils eingeleitet von einen Interviewschnipsel. Ein Leben in Rückblenden – aber nicht fürs Auge, sondern fürs Ohr. Für Kelley ist die Blindheit seiner Protagonisten selbst gewählte schriftstellerische Verpflichtung, und er meistert sie bravourös.

Elf Jahre später. Ludlow ist ein begabter Bläser. Ein Bandleader kauft für ein paar Jahre die Rechte an ihm als Musiker. Ein neuer Herr, eine neue Unterkunft und eine neue Erkenntnis: Auch ein Blinder muss lernen, was ein Farbiger ist. Ertasten kann Ludlow den Unterschied nicht, spüren schon. Und im Zusammenspiel von Mann und Frau lernt der 16-Jährige in der Halbwelt der Bar, in der er spielen muss, dass er hart und böse werden muss, um zu bestehen.

Schnitt. Musik bekommt einen Eigenwert, wird Kunst. Ludlows Spiel gibt mehr her, als die Band verlangt. Viel mehr. Gibt Raum für Freundschaft, sogar für einen ernsthaften Beziehungsversuch. Und am Ende ist sie wichtiger als das frisch geborene Kind. Ludlow geht den Weg der schwarzen Musik, von New Orleans – das im Buch anders heißt – nach Harlem, Frau und Kind bleiben zurück.

Das Nachkriegsharlem ist ein gebrochenes Versprechen auf die Möglichkeit eines anderen Zusammenlebens zwischen Schwarz und Weiß. Ludlow pendelt sich musikalisch zwischen Dizzy Gillespie, Charlie Parker und Sonny Rollins ein,und macht den Weg von Swing und Bebop zu Hard Bop und Cool. Details lässt Kelley gekonnt in der Schwebe. Um diesen Roman in sich resonieren zu lassen, muss man sich nicht auf Thelonius Monk, Art Blakey oder Miles Davis festlegen. Ähnlich dem dreizehn Jahre älteren New Yorker Schriftstellerkollege James Baldwin lässt Kelley seinem Protagonisten kurz die Illusion, dass Liebe und Kunst die Definitionskartelle von Schwarz und Weiß in ihrer Willkürlichkeit ignorieren könnten. Als es ernst wird zwischen Ludlow und seiner weißen Frau, als Schwangerschaft ein Bekenntnis verlangt, verlässt sie ihn.

Wie bei Baldwin lässt Kelley Ludlow daran zerbrechen, aber nicht in Form von Gewalt und Selbstmord. Ludlow wählt einen spektakulären öffentlichen Akt, der die Verhältnisse offenlegt, die unter dem dünnen Firniss der New Yorker Weltoffenheit etwas zu rosig erscheinen: Machtlose sind blind dafür, dass sie sich – auch als bewunderte Avantgardisten – nur durch die Augen der Macht anderer sehen können. Sehen kann das nur ein Blinder. Aber wenn er es publik macht, ist er selbst für seine eigene Blase gestorben.

Atmet Baldwins Schreiben Spirituals von Mahalia Jackson bis Nina Simone, bläst Kelleys Roman mit dem Rücken zum weißen Publikum zur Birth of the Cool. Überfällige Wiederentdeckung eines Romans aus den 1960ern. Großartig.

William Melvin Kelley: Ein Tropfen Geduld. Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 284 Seiten, 24 Euro

Buch bestellen / reservieren

Schwebend in eine verzauberte Sprache

von Walle Sayer

Anja Kampmann, geboren 1983 in Hamburg, Absolventin des Deutschen Literaturinstitutes in Leipzig, debütierte 2016 mit dem Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ in der Edition Lyrikkabinett bei Hanser. 2018 erschien ihr Roman „Wie hoch die Wasser steigen“, der für den Preis der Leipziger Buchmesse und den Deutschen Buchpreis nominiert war und inzwischen in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Im Jahr 2019/2020 war sie Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. Sie gilt als ganz eigenwillige, unverwechselbare Stimme in der Gegenwartsliteratur, bei der die Sprache der Poesie auch in der Prosa immer spürbar ist.

Im Frühjahr 2021 erschien ihr zweiter Gedichtband „Der Hund ist immer hungrig“. Die Kritik bewundert an diesem neuen Band ihre Bildsprache, konstatiert eine unprätentiöse Eleganz, eine atonal vibrierende Schönheit. Komplexe Sätze seien es, aber keine hermetische Lyrik: Verse, die die Tiefe unseres Seins ausloten.

DANN fuhren wir im dunkeln und die paddel

nass und leise gurgelte die strömung gras nicht

schwärze war das große kraut am rand

wir fuhren ohne zutun so wie liebe spricht

als Flüstern eigentlich auch ohne dich und mich.

Der Sprachfluss wird durch kein Komma, keine Großschreibung gestört, damit die Sätze schweifen, mäandern, sich ihren eigen-melodischen Weg durch die Bedeutungs- und Erinnerungsschichten bahnen können.

Die Stoffe für ihre Gedichte finden sich in ihrer ganz eigenen Art von Weltbeobachtung. Die Beglaubigung eines literarischen Textes durch die Biographie des Autors interessiere sie nicht, betonte sie einmal. Und steht mit dieser Haltung dann „am Rand/ von diesem dorf das ohne namen bleiben soll/ für den moment“. Und sieht dabei „flächen, die gähnen und flächen, die man umgraben kann.“

Von „Marschland“ über „Mittweida im Januar“ bis hin zu „Atlantis“ betritt sie in ihren Gedichten Erinnerungsräume und leuchtet sie aus. Renekloden sind ihr genauso ein Gegenstand der Dichtung wie „Deep Blue“, der von IBM entwickelte Schachcomputer, gegen den Gary Kasparov verlor. Ihre Exkursionen führen zu einer Jagdszene im Hirschzimmer im Papstpalast von Avignon bis hin zum zweit-größten Frackinggebiet der Welt, das im kanadischen Bundesstaat Alberta liegt.

Wie nebenbei zeigt ihre Dichtung dabei auf, wie man im Gedicht erzählen kann. Das Erzählte braucht nur anerzählt zu werden und bekommt dabei nicht mehr Gewicht wie die poetische Erzählstimme, wie der Erzählton. Die Schwebe, in der etwas gelassen wird: „das lachen sollte klingen wie das gegenteil von weinen/ von zaghaft oder heulen“. Ein anderer, poetischer Umgang mit der Zeit hallt nach: „die mädchen die zukunft und alles was war“ .

Im Gedicht „in meiner Klasse“ schreibt sie: „dennoch: die apfelbäume blühten“, als erklinge darin ein Echo an auf diesen Vers von Rainer Malkowski, dessen nach ihm benannten Preis sie für ihren neuen Gedichtband in diesem Jahr erhielt: Dennoch: ein schönes Wort, der Geist, in dem man Verse macht.

In ihrer Dankesrede zu diesem Preis, den ihr die Bayrische Akademie der Künste verlieh, umriss sie ihre Poetik mit einem leuchtenden Satz: Jedes Geschichte, sagte sie, bilde sich auf den Obertönen der Realität; diese Realität solle ein Sänger, ein Dichter verwandeln, verdichten, in das Andere, Schwebende in eine verzauberte Sprache.

Anja Kampmann: Der Hund ist immer hungrig. Gedichte. Hanser Verlag, München 2021. 120 Seiten, 20 Euro

Buch bestellen / reservieren

Vom Verschwinden

von Jens Steiner

Wer ihn kennt, liebt ihn: „Paper Moon“, Peter Bodganovichs Film um den verschlagenen Handelsreisenden Moze Pray und seine Begleiterin, das neunjährige Mädchen Addie – ein gleichermaßen bezauberndes wie historisch aufschlussreiches Road Movie vor dem Hintergrund der amerikanischen Depression. Die chilenische Autorin María José Ferrada nimmt diese Konstellation für ihren Roman „Kramp“ auf und versetzt sie in das Chile der Wirtschaftskrise um das Jahr 1983.

M., Tochter des Handelsreisenden D., erklärt sich im Alter von sieben Jahren kurzerhand zur Assistentin ihres Vaters. Wann immer möglich, sind die beiden im Namen der Werkzeugmarke Kramp unterwegs. M. scheint ein Talent für das Vertretergeschäft zu haben, und so trickst das Duo Mutter und Schule aus, um zu mehr gemeinsamen Reisetagen zu kommen. „Ich beherrschte den gleichgültigen Blick, den sanft melancholischen Blick, den gelangweilten und den verzweifelten Blick. Und falls keiner davon half, gab es noch den Blick, der erkennen ließ, dass ich kurz davorstand, in Tränen auszubrechen.“ Die Ladeninhaber schmelzen reihenweise dahin, die Umsätze steigen. Von berechnender Nüchternheit ist auch M.s Verhältnis zu ihrem Vater: „Mit acht Jahren war mir klar, dass D. als Vater nicht viel hermachte, aber dafür war er ein großartiger Arbeitgeber.“ In Szenen von lakonischem Witz zeichnet Ferrada ein Sittenbild aus der Welt der Reisevertreter, wie es sie heute nicht mehr gibt.

So charmant die Finten des Duos auch daherkommen – stets lauert unter ihnen der doppelte Boden der chilenischen Geschichte. Augusto Pinochet hat das Land seit seinem Putsch im Jahr 1973 in ein Labor des real existierenden Neoliberalismus verwandelt. Die sachliche Sprache des Romans, die weitgehende Abwesenheit von Solidarität sind Ausdruck einer in ihren Grundfesten beschädigten Gesellschaft. Ferrada unterstreicht diese Diagnose, in dem sie keiner der Figuren einen kompletten Namen verleiht. Unausweichlich, dass irgendwann auch die Gräuel der frühen Pinochet-Jahre zutage treten. Ein Freund von D., der Fotograf E., macht sich in einem verlassenen Dorf auf die Suche nach sogenannten Gespenstern. Was man bei der Lektüre früh ahnt, erweist sich als Durchbruch im doppelten Boden der Geschichte – und damit auch als Wendepunkt des Romans. Die Gespenster sind nichts anderes als verscharrte Leichen der „desaparecidos“ – jener Dissidenten, die das Regime zum Verschwinden gebracht hat. Der Fotograf wird letztlich von der Geheimpolizei erschossen, der Handelsreisende D. überlebt dank seiner Schläue, M. geht mit der Mutter weg und beginnt anderswo ein neues Leben.

Erzählerisch fällt der Schlussteil etwas ab, doch in einem entscheidenden Detail offenbaren sich darin die kluge Bauweise und die Tragweite der Geschichte. Denn nun taucht doch noch ein ganzer Name auf: Jaime Andrés Suàrez Moncada. Er steht für eines der Gespenster, die der Fotograf E. in dem verlassenen Dorf gefunden hat. Der „desaparecido“ Suàrez Moncada erklärt die merkwürdige Abgehobenheit der Familie, die die Folge einer erschütternden Betäubung, eines Verstummens ist. Die Ratlosigkeit M.s angesichts dieses Namens steht für die Schwierigkeiten, mit denen Chile bis heute im Umgang mit den Verbrechen der Pinochet-Zeit ringt.

Maria José Ferrada hat mit „Kramp“ ein Buch über das Verschwinden geschrieben: das Verschwinden des klassischen Handelsvertreters mit Köfferchen, das Verschwinden von Menschen in einer Diktatur, das Verschwinden der Sprache. Ein Buch, das zeigt, was Literatur kann und wie sehr wir sie brauchen.

Maria José Ferrada: Kramp. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2021. 132 Seiten, 22 Euro

Buch bestellen / reservieren