Grantler und Dampfplaudere
von Jens Steiner
Spätestens seit Thomas Bernhard ist das Grantlertum als hochwirksamer literarischer Brennstoff anerkannt. Auch drei Jahrzehnte nach dem Tod des Österreichers wird die Lochkarte seines Prosastils in immer neuen Variationen durch die Drehorgel des zeitgenössischen Romans gekurbelt, manchmal originell, manchmal – nun ja – nicht so. Auch in Jens Wonnebergers neuem Roman «Flug der Flamingos» sind solche Anklänge zu vernehmen. Was den Dresdner Autor von manch anderem Adepten der Bernhard’schen Suada unterscheidet, ist sein fein austarierter Einsatz derselbigen.
Der Grantler ist in «Flug der Flamingos» ein namenloser Ich-Erzähler, der nach dem unerwarteten Tod seiner Frau Katharina beschlossen hat, dem eigenen Leben nichts Erwähnenswertes mehr hinzuzufügen. Seine Stelle hat er gekündigt, um sich zu Hause ganz der Trauer hingeben zu können. Sozusagen als Kontrastfigur schleicht durch diese Lebensleere Nachbar Rimböck, dessen Spießigkeit den Ich-Erzähler zu Stänkereien reizt: «Schon allein der Name! Wer heißt schon Rimböck? Der Name, dachte ich manchmal, taugt doch eher als Maßeinheit für Ärger und Unannehmlichkeiten aller Art, schlechtes Wetter war mir egal, aber kalter Kaffee – ein Rimböck, die steigenden Zigarettenpreise – zwei Rimböck, mindestens, und dann immer so weiter, ein sorgfältig ausgedachtes Punktesystem der Verdrießlichkeit, eine nach oben offene Unheilskala.» Wonneberger tut gut daran, die Zügel bei diesen Tiraden nicht schießen zu lassen. Denn das Sich-Verbohren des Erzählers in der Trauer um Katharina ist letztlich die Suche nach einem Grund, weiterzumachen im Leben.
Wonneberger gibt dieser zögerlichen Suche viel Raum. Eine Offenheit, die sich als Stärke und zugleich als Schwäche des Romans erweist. Mitunter scheint es, als ob Wonneberger selber auf der Suche sei, als ob er nicht wisse, was mit diesem Text noch anzustellen ist. In die Offenheit tritt Kratzer – ein gemeinsamer Freund des Paars, der den Erzähler auf unfassbar tolpatschige Weise aufzurichten versucht; in die Offenheit hineinskizziert werden auch Erinnerungen an die Jahre mit Katharina. Schließlich beginnt sich der Kern dieser Suchbewegungen abzuzeichnen: das rätselhafte Vorleben der Verstorbenen als Künstlerin, über das Nachbar Rimböck – ironische Pointe des Romans – mehr zu wissen scheint als der Erzähler. In einer abschließenden Vision zu Katharinas Tod beweist Wonneberger seine ganze Meisterschaft: zart und freudlos zugleich ist sie, die Vision, endend im titelgebenden Flug der Flamingos, in dem die bitteren Erinnerungen des Grantlers sich mit so etwas wie Hoffnung verbinden.
Ein nicht unähnlicher Typ Mann hat seinen Auftritt im Vorgängerroman von 2019, «Mission Pflaumenbaum»: der Dampfplauderer. Rottmann heißt er hier, unerschrockener Besserwisser und Lokalchronist eines abgehängten Städtchens irgendwo im Osten der Republik. Wonneberger stellt Rottmann als «Sidekick» dem Helden Kramer bei, einem zu Verzagtheit neigenden Bibliothekar, der in dem Ort seine Tochter besucht. Kramer ist nicht wohl, als er im Städtchen aus dem Bus steigt, die Beziehung zu seiner Tochter ist von Misstrauen geprägt, nie hat sie aufgehört, ihrem Vater die Schuld an der Scheidung von seiner Frau zu geben. Beim Gedanken an ein Wochenende in ihrem Haus wird Kramer mau. Rottmann nimmt ihn vom ersten Moment an in Beschlag, erzählt ihm von früher, vom Krieg und den darauffolgenden Enteignungen, von der Wendezeit, der Rolle der Treuhand und dem Niedergang der örtlichen Industrie, auch jammert er ausgiebig über die neuen Zeiten. Kramer wird Rottmann auf seinen Spaziergängen immer wieder begegnen und durchlebt dabei eine Mischung aus Erleichterung – Rottmann «befreit» ihn von der Gegenwart seiner Tochter – und Angst davor, dass Rottmanns Ergüsse doch noch in die hier und dort angedeutete Fremdenfeindlichkeit kippen. Auch erinnert Rottmann ihn an seine eigene Skepsis, die er damals der deutschen Wiedervereinigung entgegenbrachte.
Nach zwei Tagen reist Kramer ab – nichts hat sich gebessert, weder die knarzige Beziehung zur Tochter noch die Erinnerungen an frühere Jahre. Doch als Leserin, als Leser hat man längst Vertrauen in Wonnebergers Sprache gefasst, die in ihrer unvoreingenommenen Aufmerksamkeit fast schon Gerechtigkeit zwischen den Dingen, Epochen und Menschen schafft. Genauso wie der Nachfolger ist «Mission Pflaumenbaum» ein Buch über einen Zauderer, der sich allzu gerne in seine geistigen Refugien verkriecht, ein Kammerspiel mit reduziertem Personal und knapper Handlung. Es ist das Terrain, in dem Wonneberger seine Stärken am besten ausspielen kann und in kargen Strichen ostdeutsche Wirklichkeiten skizziert. Die Unaufgeregtheit und Genauigkeit, mit der Wonneberger erzählt, wurde 2020 zu Recht mit einer Nomination zum Deutschen Buchpreis belohnt.
Jens Wonneberger: Flug der Flamingos. Müry Salzmann Verlag. 160 Seiten, 19 Euro
Jens Wonneberger: Mission Pflaumenbaum. Müry Salzmann Verlag. 192 Seiten, 19 Euro
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