Ein Leben
von Michael Schwarz
Bei der Beisetzung ihrer Mutter begegnet Joseph seinem Zwillingsbruder Michel wieder. „Sie hatten sich nicht umarmt, man umarmte sich nicht, Michel hatte nur ein bisschen seine Schulter berührt […]. Am Abend bevor er hinauf ins Bett ging, hatte Joseph gedacht, dass es fast war, als hätte er keinen Bruder mehr.“
Auf knappen einhundertzwanzig Seiten erzählt Marie-Héléne Lafon das Leben von Joseph. Joseph hat sein Leben lang auf Bauernhöfen im Cantal in der Auvergne gearbeitet. Alles, was er besitzt, passt in einen großen, harten eckigen Koffer. „Joseph hinterlässt keine Spuren und macht keinen Lärm.“ Er kann besser mit den Tieren als mit den Menschen umgehen. Jetzt steht er kurz vor der Rente und erinnert sich an seine Schulzeit, seine tragische Liebesgeschichte mit Sylvie, seine Trinkerei und die letzte Entziehungskur, „als er auf dem tiefsten Grund des mit schmutzigen Wasser gefüllten Lochs“ angekommen war. Joseph hat ein zuverlässiges Gedächtnis für Zahlen. Seine Erinnerungen sind aber assoziativ und sprunghaft. Marie-Hélène Lafon, die selbst in dieser von Landwirtschaft geprägten, abgeschiedenen Bergwelt aufgewachsen ist, verleiht Joseph und den miterzählten Bewohner*innen der Region, glaubhafte Stimmen. Als würde sie die Geschichten dieser Menschen als stille Zuhörerin einsammeln und uns dann in einer schnörkellosen und doch sinnlich rhythmischen Sprache wiedererzählen.
Hier können Sie eine Textpassage aus dem Roman lesen.
Marie-Hélène Lafon: Joseph. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Atlantis Verlag, Zürich 2023. 20 €
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