Liebe Lesende,

in unserer Frühlingsausgabe der Lesezeit möchten wir Ihnen fünf Bücher vorstellen, die uns ganz besonders am Herzen liegen. Marie-Hélène Lafon erzählt das Leben eines Landarbeiters in der Auvergne, Gino Vermicelli vom Partisanenkampf Ossolatal Ende März 1944 und Tarjei Vesaas parabelhaft von der Besatzung Norwegens durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. In den Romanen von Birgit Birnbacher und Caroline Wahl wiederum werden  prekäre Lebens- bzw. Familienverhältnisse, die mutige Entscheidungen erfordern, um dem Leben eine andere Richtung zu geben, erzählt.

Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre und freuen uns auf Ihren Besuch in der Buchhandlung.

Ihre Buchhandlung Schwarz

Ein Leben

von Michael Schwarz

Bei der Beisetzung ihrer Mutter begegnet Joseph seinem Zwillingsbruder Michel wieder. „Sie hatten sich nicht umarmt, man umarmte sich nicht, Michel hatte nur ein bisschen seine Schulter berührt […]. Am Abend bevor er hinauf ins Bett ging, hatte Joseph gedacht, dass es fast war, als hätte er keinen Bruder mehr.“

Auf knappen einhundertzwanzig Seiten erzählt Marie-Héléne Lafon das Leben von Joseph. Joseph hat sein Leben lang auf Bauernhöfen im Cantal in der Auvergne gearbeitet. Alles, was er besitzt, passt in einen großen, harten eckigen Koffer. „Joseph hinterlässt keine Spuren und macht keinen Lärm.“ Er kann besser mit den Tieren als mit den Menschen umgehen. Jetzt steht er kurz vor der Rente und erinnert sich an seine Schulzeit, seine tragische Liebesgeschichte mit Sylvie, seine Trinkerei und die letzte Entziehungskur, „als er auf dem tiefsten Grund des mit schmutzigen Wasser gefüllten Lochs“ angekommen war. Joseph hat ein zuverlässiges Gedächtnis für Zahlen. Seine Erinnerungen sind aber assoziativ und sprunghaft. Marie-Hélène Lafon, die selbst in dieser von Landwirtschaft geprägten, abgeschiedenen Bergwelt aufgewachsen ist, verleiht Joseph und den miterzählten Bewohner*innen der Region, glaubhafte Stimmen. Als würde sie die Geschichten dieser Menschen als stille Zuhörerin einsammeln und uns dann in einer schnörkellosen und doch sinnlich rhythmischen Sprache wiedererzählen.

Hier können Sie eine Textpassage aus dem Roman lesen.

Marie-Hélène Lafon: Joseph. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Atlantis Verlag, Zürich 2023. 20 €

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Landschaften des Antifaschistischen Widerstands

von Katharina Tillmann

Ossolatal Ende März 1944: Der Schnee liegt nur noch in großen weißen Flecken in den Mulden. Allmählich sind die Bergbauernhöfe und Almen wieder begehbar. Zu diesem Zeitpunkt macht sich eine Gruppe Partisanen auf dem Weg in die Berge. In enger Zusammenarbeit mit den Tal- und Bergbewohner*innen kämpfen die Partisanen gegen die deutschen und italienischen Faschisten. Gino Vermicelli beschreibt die Überlebensformen und Kriegsführung der Partisanen im Ossolatal, berichtet von der Lebensmittelbeschaffung, der Überbringung von Nachrichten, der Entwicklung militärischer Strategien. Die Momente des Spannungsaufbaus, getragen von schnell aufeinanderfolgenden Ereignissen, kontrastiert Vermicelli mit atmosphärischen Erzählpassagen, in denen das Innenleben der Partisanen, ihre Liebesbeziehungen und Freundschaften, Gedanken und politischen Ansichten erzählt werden. Die Landschaft und das Leben der Bergbewohner*innen stehen in großem Kontrast zu Krieg und Zerstörung. Dabei bilden die Naturbeschreibungen lediglich die Hintergrundfolie und stellen die regionalen Bedingungen für den Kampf der Partisanen dar. Weder erscheinen die Partisanen als Held*innen, noch wirkt die Berglandschaft idyllisch. Darin liegt meines Erachtens die große Stärke des Romans, der im nüchternen Ton erzählt, auch als Bericht gelesen werden kann.

Gino Vermicelli: Die unsichtbaren Dörfer. Aus dem Italienischen von Barbara Fahrni-Mascolo. Rotpunktverlag, Zürich 2022. 29 €

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Ein Neuanfang

von Kathrin Hillig

Julia ist schon lange erschöpft von ihrem kräftezehrenden Beruf als Krankenschwester. Da ist es nicht verwunderlich, dass ihr ein Fehler passiert, der die Kündigung nach sich zieht. Eigentlich hält sie sowieso nichts in der Stadt. Ohne Wohnung und Job endet die Flucht aus dem Dorf in die Stadt wieder in der Enge ihres Heimatorts und ihrer Familie. Ihre Mutter hat sich nach Jahren der Aufopferung für den kranken Sohn und ihren Mann befreit und ist weggezogen. Die Tochter übernimmt nun die Pflichten der Mutter. Das Schöne an diesem Roman ist, dass die anfängliche Tristesse, die Enge des Dorfes, letztlich für Julia doch eine Chance für einen Neuanfang bietet. Dabei hilft ihr nicht nur Oskar, ein Mann ihres Alters, der einen Herzinfarkt erlitten hat und dem nun für ein Jahr Geld zur Verfügung steht, um einen Neuanfang zu wagen. Auch die Unterstützung einiger Dorfbewohner machen es Julia leichter, auch wieder Zeit für sich zu haben und über ihren weiteren Lebensweg nachzudenken. Sie lebt sich im Dorf ein und schöpft neuen Mut. Birgit Birnbacher schreibt in einem unaufgeregten Stil mit viel Empathie für ihre Hauptperson und zeigt, dass eine Rückkehr von der Stadt in die Enge des Heimatdorfes keine Sackgasse sein muss, sondern auch eine Chance sein kann, noch einmal von vorne anzufangen.

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023. 24 €

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Geschwisterliebe

von Michael Schwarz

„Heute versuche ich so viel Zeit wie möglich mit Mathe zu verbringen, weil das ein Ort ist, an dem ich zu Hause bin […]“, sagt Tilda über sich selbst an einer Stelle in Caroline Wahls Debütroman „22 Bahnen“. Es gibt noch einen zweiten Ort, an dem sie sich zuhause fühlt: Das Schwimmbad der namenlosen Kleinstadt in der Tilda lebt. Dort findet sich Tilda allabendlich nach Mathematikstudium und Nebenjob als Kassiererin im Supermarkt ein und schwimmt ihre 22 Bahnen. Während ihre Freunde der öden Kleinstadt nach dem Abitur den Rücken gekehrt haben, ist Tilda geblieben und pendelt jeden Tag mit der Straßenbahn zum Studium in die Universitätsstadt. Das hat vor allem einen Grund: Sie möchte ihre kleine Schwester Ida nicht allein bei ihrer alkoholkranken Mutter zurücklassen. Eines Tages aber wird Tildas durchgetakteter Alltag aufgebrochen. Viktor, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda befreundet war, taucht auf. Gleichzeitig bekommt sie eine Promotionsstelle in Berlin angeboten. Kann sie vielleicht doch der Kleinstadt entfliehen, ohne ihre kleine Schwester schutzlos zurückzulassen?

Caroline Wahl erzählt die Geschichte der Schwestern aus Tildas Perspektive und passt mit feinem Gespür Tonlage und Rhythmus situativ an. Erzählt sie von der bedingungslosen gegenseitigen Geschwisterliebe, ist der Ton zärtlich und leise. Ist Tilda wütend auf ihre Mutter, wird er rau und laut. Es gibt Romanfiguren, die mir immer im Gedächtnis bleiben werden. Ida und Tilda gehören dazu.

Am 17. Mai wird Caroline Wahl Gast der Buchhandlung Schwarz sein. Hier finden Sie weitere Informationen.

Caroline Wahl: 22 Bahnen. Dumont Verlag, Köln 2023. 22 €

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Im Inneren erwachende Stimmen: Fragen zur Schuld

von Katharina Tillmann

Noch liegen die Sauen ruhig in ihren Koben. Gerade geworfen, saugen die Ferkel genüsslich an den Zitzen. Auf dem Li Hof, dem mit Abstand herrschaftlichsten auf der Insel in Norwegen, ist es ruhig. Der bäuerliche Alltag geht seinen Gang, als ein Fremder an Land geht. Andreas Vest heißt der Mann, der nicht auf der Insel lebt und doch vorhat zu bleiben. Allein das erscheint erstaunlich. Rastlos durchwandert er die Insel und stößt dabei auf die Bewohner*innen, die in kurzen Szenen vorgestellt werden. Die*der Leser*in bekommt einen Eindruck von einer eingeschworenen, friedlichen Dorfgemeinschaft. Dann kommt es zum Mord und ein weiterer folgt. Ein Abgrund tut sich auf, dem die Dorfbewohner*innen kollektiv gegenüberstehen. Was tun? Wie mit dem Unvorstellbaren umgehen?

Tarjei Vesaas‘ Roman, 1940 erstmals veröffentlicht, entstand vor dem Hintergrund der Besatzung Norwegens durch die Deutschen. Mit diesem Wissen liest sich Vesaas‘ Text wie eine Parabel, ein Lehrstück über die zentrale Frage: Wie können Menschen angesichts eines unerklärlichen Verbrechens kollektiv Verantwortung übernehmen? Die Antwort, die Vesaas findet, ist ebenso schlicht wie vorausschauend.

Tarjei Vesaas: Der Keim. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz Verlag, Berlin 2023. 24 €

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