Maja Haderlap: Nachtfrauen
Die ersten slowenischen Worte kratzen in ihrem Hals. Mira räusperte sich, denn die Stimme, mit der sie sprach, klang ihr selbst einigermaßen fremd. Sobald sie slowenische sprach, erwachte in ihrem Kehlkopf ein tieferer Sprechton, der sie stets von neuem überraschte. Sie unterhielt sich mit Anni gewöhnlich im Dialekt, in einer Sprache die sie im Nu in eine andere Haltung zwang. Der slowenische Dialekt war das Tor, durch das sie eine abgeschlossene, scheinbar zurückgelassene Welt betrat, die von Menschen bevölkert wurde, von Lebenden und Toten, die etwas von ihr wollten. Man stimmte ein und stimmte zu, man hinterfragte nicht. Der Dialekt glich einer Tracht, mit der man in einer unüberschaubaren Menge erkennbar blieb und nicht verlorengehen konnnt, es war eine Sprache, die vorgab ein rettendes Ufer zu sein, wo man ankommen und verschnaufen konnte. Miras Kindheit hatte in dieser Sprache stattgefunden, der slowenische Dialekt war ihre Spielzeugkiste gewesen, in der sie all ihre Wünsche , ihre frühen Ängste und Einsichten verstaut hatte. Überall sonst war sie von dieser Sprache getrennt, sie ruhte, einem Gegeheimnis gleich, in ihr, sie barg die Geschichte ihrer Vorfahren. Es war eine Sprache der Kindheit, aber auch eine Sprache der Verluste, über die sich Mira selbst nicht recht im Klaren war.
Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel/Železna Kapla (Kärnten) geboren. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik war sie Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt und lange Jahre Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt Engel des Vergessens 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021. Nachtfrauen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag.
Maja Haderlap: Nachtfrauen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 24 €