Eva Schmidt: Die Welt gegenüber

Ich rauchte zu Ende, drückte die Zigarette auf dem Fenstersims aus und warf die Kippe nach unten auf die Straße. Als ich zu Bett ging, brannte das Licht im Dachgeschoss des gegenüberliegenden Hauses noch immer. Nachdem ich die schweren Vorhänge zugezogen hatte, bewegten sich meine Gedanken in der Dunkelheit des Zimmers wie eine Horde von Mäusen, die nicht wegzuscheuchen waren. In einem Zustand unerträglicher Wachheit nach dem Tee vom Nachmittag und der gleichzeitigen Müdigkeit vom langen Wandern auf den Klippen begannen sich Eindrücke des Tages zu verselbständigen. Sie wurden zu sich bewegenden Bildern und Visionen, die einander rasch abwechselten. Es waren keineswegs Vorstellungen von Glück, so sehr ich mir dieses auch herbeizudenken versuchte, sondern solche von Einsamkeit, von gegenseitigem Ungenügen, von Kummer. Immer wieder tauchte das Gesicht der Frau aus dem gegenüberliegenden Haus vor mir auf, die am langen Kieselstrand von Brighton aufs Meer blickte, und ich sah es in rasender Geschwindigkeit alt werden. Ihre schönen Lippen wurden schmal und hart, ihre glänzenden schwarzen Augen fahl und ausdruckslos. Es war wohl eine Art Mitleid, das mich nicht einschlafen ließ, Mitleid mit dem jungen Paar im gegenüberliegenden Haus, mit mir selbst, mit anderen Männern und Frauen, die ihre Jugend, oft aber auch ihr ganzes Leben darauf verwendeten, auf etwas zu hoffen, das die Grenzen ihres Wesens, die Barrieren, die sie selber schufen, überstieg.

Eva Schmidt, lebt in Bregenz, Österreich. Zuletzt, nach einer Unterbrechung von zwanzig Jahren, hat Sie die beiden Romane »Ein langes Jahr« (2016) und »Die untalentierte Lügnerin« (2019) veröffentlicht. Mit beiden Büchern war Sie für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Eva Schmidt: Die Welt gegenüber. Erzählungen. Jung und Jung Verlag. 22 €