Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium

Das Leben selbst verbindet, die Lebensweise, besser die Art und Weise und die Umstände des Überlebens und die damit verbundenen Besonderheiten in der Mentalität. Sowohl die extrem russifizierten Bewohner des Donbas als auch die Bürger des extrem nationalistischen Galizien zahlen annähernd die gleichen Schmiergelder für die gleichen Dinge an die Behörden, trinken den gleichen Schnaps mehr oder weniger gleicher Qualität mit mehr oder weniger gleichen Folgen, hören die gleiche gräßliche Musik russischen Ursprungs, schleppen die gleichen Marktwaren in den gleichen abgrundtiefen karierten Taschen und tragen von Oktober bis April die gleichen Kaninchenfellmützen, erklären sich das Dasein mit Hilfe derselben Klischees, und vor allem fiebern sie mit der gleicher Begeisterung für die Kiewer Mannschaft »Dynamo« wie auch die Nationalmannschaft der Ukraine (ein Faktor, der in den letzten fünf Jahren fast das einzige positive verbindende Moment darstellte).

Bei der Suche nach Gemeinsamkeiten würde ich noch weiter gehen: sowohl der »antikommunistische« Westen als auch der »kommunistisch gemachte« Osten verhalten sich bei den Wahlen völlig identisch; man wählt Politiker ein- und desselben Typs, die einander in ihrem Äußerem, in der Art zu denken, sich zu benehmen und Phrasen zu dreschen ähnlich sind, auch wenn sie scheinbar verschiedenen, oftmals antagonistischen Gruppierungen angehören, letzendlich erweist sich aber genau das, die politische Orientierung, als unwesentlich. Wesentlich ist etwas anderes: der Kampf um Einfluß, Vermögen, Öl, Gas, Wald, Aktienpakete, Datschas, Wohnungen, Autos – und ausländischen Bankkonten in (zumindest aus der Sicht des ukrainischen Durchschnittswählers) märchenhafter Höhe.

Der angebliche »Graben zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine« ist für mich ein totaler Anachronismus. Es gibt weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die Ukraine ist wirklich ein einziges Land – anders als die Türkei, als Polen und sogar Rußland.

Aber wie verschieden ist das eine Land zugleich!

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Außerdem veröffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegründer der legendären literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen Rekreacij (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), Moscoviada (1993, dt. Ausgabe 2006), Perverzija (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Französische und Italienische übersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden.

Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium. Essays. Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan. Edition Suhrkamp. 14€