Mariette Navarro: Über die See

Sie ist die Tochter eines Kapitäns, und ein Leben an Land stand nie zur Debatte, von klein auf hat sie zu viel über Schiffe gelernt, als dass sie sich vom Meer hätte lossagen können. So wie andere stolz auf ihre ferne Herkunft verweisen, ist sie mit dem Wasser verbunden. Es ist nie zu einem Bruch, zu einer Ablehnung gekommen. Sie hat sich für die Schifffahrt entschieden, diesen menschlichen Wissensschatz, für antikes Handwerkserkzeug und moderne Maschinen, Zahlen und Empfindungen, für kosmische Abstraktionen und die Sonne im Gesicht. Diese Erfahrungen haben sie reifer und komplexer werden lassen.

Sie hat die anderen – Männer, vor ihr – bei der Arbeit beobachtet, unter fordernden, manchmal herablassenden und misstrauischen Blicken hat sie alles gelernt, was man wissen muss, hat sich bewährt. Sie hat keine Etappe übersprungen, denn Privilegien sind ihr ebenso fremd wie alles, was der Einhaltung des vorgegebenen Prozederes entgegensteht. Sie hat festgestellt, dass die Arbeit sie besänftigt, dass das Schuften sie beruhigt. Mit Gewissenhaftigkeit und vollem Einsatz hat sie sich die Autorität verschafft.

Mariette Navarro ist Schriftstellerin und Dramaturgin. In dem kleinen französischen Verlag Cheyne gibt sie eine Reihe poetischer Prosatexte mit heraus, darunter ihre eigenen, »Alors Carcasse« (2011, Robert Walser Preis 2012) und »Les Chemins contraires« (2016). Auf Deutsch erschien 2014 »Wir Wellen«. Zudem hat sie mehrere Stücke geschrieben. »Über die See« ist ihr erster Roman.

Mariette Navarro: Über die See. Aus dem Französischen von Sophie Beese. Verlag Antje Kunstmann, München 2022. 20 €